Zuletzt bearbeit am Dienstag, 30 Januar, 2024
Sozialarbeit lässt sich als die Summe aller Tätigkeiten bezeichnen, die die Wahlmöglichkeiten ihrer Klienten erweitern und sie dabei unterstützen, ihre Lebenssituation zu verbessern. Indem sie die Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen, die benachteiligt oder von Benachteiligung bedroht sind, voraussetzt und fördert, bringt die Soziale Arbeit im besten Fall für alle Mitglieder unserer Gesellschaft einen Zugewinn an Lebensqualität.
Systemische Sozialarbeit setzt Autonomie und Selbstbestimmung voraus. Sie umfasst eine Vielfalt von Theorien, Methoden und Haltungen – darunter ganz unterschiedliche Ansätze. Systemische Sozialarbeit ist (zum Glück!) nicht klar definiert und abgegrenzt, sondern entspricht also eher einem Werkzeugkoffer, den es in den unterschiedlichsten Ausführungen gibt. Die Menschen, die systemisch arbeiten, verwenden die Ideen, Konzepte, Einstellungen und Methoden jeweils so, dass sie für sie nützlich sind. Angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Ansätze ist ein wesentliches Kennzeichen systemischer Sozialarbeit damit offensichtlich auch das Aushalten-Können von Vielfalt und der Verzicht auf eine einzige Wahrheit.
vgl. auch Johannes Herwig-Lempp (2022), Systemische Sozialarbeit. Haltungen und Handeln in der Praxis, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
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„Systemisch“ bedeutet für mich,
u. a. von folgenden Voraus-Setzungen auszugehen:
- Es gibt immer mindestens sieben Möglichkeiten.
- Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung.
- Probleme sind Ansichtssache.
- Alles fließt. Veränderung findet immer statt. Vorfall statt Rückfall.
- Menschen tun immer das, was sie wollen.
- Menschen sind die Experten für ihr Leben.
- Jeder hat gute Gründe für das, was er/sie tut.
- Alle Menschen wollen immer kooperieren.
- Systeme existieren. Stimmt’s? Stimmt nicht!
- Theorien sind Werkzeuge
Diese Voraus-Setzungen sind für mich nicht „wahr“, können aber nützlich sein, sozusagen als Arbeitshypothesen – und häufig können sie gerade dann, wenn es schwierig wird (und sie schwierig anzuwenden scheinen), für mich und meine Arbeit besonder brauchbar werden.
Was das im einzelnen in der Sozialarbeit bedeuten kann, und wie diese Voraus-Setzungen im Arbeitsalltag in praktisches Handeln übersetzt werden können, ist u.a. Gegenstand der Konzepte Systemischer Sozialarbeit.
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Systemisch zu lehren und zu lernen
bedeutet für mich u.a.,
- das Vorwissen der Lernenden (Studierenden, Fort- und WeiterbildungsteilnehmerInnen etc.) sowie ihre Sichtweisen und ihr Erkenntnisinteresse als Ressourcen zu sehen, sie einzubeziehen und zu nutzen,
- das Gelehrte als ein Angebot an die Studierenden zu verstehen,
- Lernen als einen aktiven Prozess des gemeinsamen Konstruierens zu verstehen,
- Studieninhalte aus unterschiedlichen Perspektiven vorzustellen,
- davon aus zu gehen und zu vermitteln, dass wissenschaftliche Theorien keine endgültigen Wahrheiten formulieren,
- Lehren als die Verstörung bisheriger Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu begreifen und den Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, die vermittelten Theorien, Haltungen und Methoden in Abhängigkeit angestrebter Ziele und möglicher Problemlösungen zu beurteilen,
- den Studierenden vielfältige Möglichkeiten interaktiven und experimentellen Lernens zur Verfügung zu stellen und Lernen immer als autonomen Prozess der Wissensaneignung zu begreifen,
- durch anregende Lernumgebungen Neugierde, Staunen und Zweifeln der Studierenden zu nutzen, um ein Lernen mit Spaß zu ermöglichen.
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Systemisch zu forschen
bedeutet für mich u.a.
- mir selbst wie auch anderen (KollegInnen und Laien!) meine Verantwortung als Forscher immer mal wieder in Erinnerung zu bringen, dass wir mit unserer Forschung zugleich immer auch die von uns erforschte Wirklichkeit gestalten und erschaffen,
- immer wieder mal explizit darauf hinzuweisen, dass wir als ForscherInnen nicht neutral sind, sondern die vielfältigsten Eigeninteressen verfolgen, und dass wir immer auch von unseren eigenen Auffassungen, Annahmen, Vermutungen, Glaubenssätzen, Überzeugungen, Vorurteilen und Stereotypen geleitet werden, die wir – bei aller bemühten Neutralität – so wie jede/r andere natürlich gerne bestätigt haben möchten.
- uns explizit auf die Kontexte, aus denen heraus wir forschen, zu beziehen; wir verweisen darauf und stellen dies auch sprachlich dar, indem wir uns selbst („ich“, „nach meiner Auffassung“, „aus meiner Perspektive“) erwähnen und durch Konjunktive und andere Relativierungen („manchmal“, „häufiger“) an Kontingenz und weitere Möglichkeiten erinnere („u.a.“, „es könnte auch sein“: andere würden es anders sehen, ich selbst könnte einen anderen Standpunkt einnehmen), unsere Erkenntnisse relativieren,
- Vielfalt/ Diversität/ Mehrdeutigkeit zuzulassen und zu erinnern – was selbstverständlich natürlich auch für diese Definition von „systemisch forschen“ gilt,
-
nicht nach „wahren Definitionen“ zu suchen, sondern uns zu erinnern, dass Definitionen immer für einen bestimmten Zweck gebildet werden.
vgl. auch Johannes Herwig-Lempp (2014), Was ist systemische Forschung? Beitrag zu einer Diskussion auf der Seite www.systemisch-forschen.de: http://www.systemisch-forschen.de/was_ist_systemische_forschung